(2015; Quartierzeitung Sternmatt)
Nur keine Angst
Kennen Sie den Satz: «Angst ist ein schlechter Ratgeber»? Man hört ihn beispielsweise von Bergsteigern oder von Menschen in verantwortungsvollen Positionen.
Ziemlich sicher haben sie aber auch oft die Aussage gehört: «Angst ist an sich etwas Gesundes, das uns beschützt; es wäre gefährlich, ohne Angst zu leben. Allerdings ist es unmöglich, klar zu unterscheiden zwischen gesunder und kranker Angst.» Dies vertreten fast alle Fachleute aus Psychologie/Psychiatrie/Philosophie.
Was gilt nun? Für mich ist klar: Angst ist ein schlechter Ratgeber! Leider werden im Allgemeinen zwei Dinge als Angst bezeichnet, die wenig miteinander zu tun haben.
Intelligenz statt Angst
Es gibt auf der einen Seite die Angst, die wir meinen, wenn wir sagen: «Ich habe solche Angst vor …» Sie kennt viele Formen (Furcht vor Arbeitsplatzverlust oder Krankheit, sorgenvolles Grübeln, Unruhe, Aufregung vor Terminen, Panik, körperliche Symptome, Phobien und vieles mehr).
Auf der anderen Seite existiert unsere angeborene Fähigkeit, auf Gefahren angemessen zu reagieren, sowie natürliche Intelligenz. Zusätzlich jene Vorsicht, die die Kinder von den Erwachsenen und durch Lebenserfahrung lernen, genau wie Jungtiere von älteren Artgenossen. Dies alles hat im Gegensatz zu Angst nichts Leidvolles an sich. Zudem sind wir mit jenem Überlebenstrieb ausgestattet, der seit Urzeiten bei Mensch, Tier und sogar Pflanzen alle Körperreaktionen hervorruft, die zu Angriff oder Flucht befähigen. Bei akuter Gefahr reagiert der Körper sogar direkt aus dem Hirnstamm, ohne Umweg über das Grosshirn. Dann rennen wir blitzschnell vor etwas weg oder greifen sofort nach dem Arm des Kindes, bevor es auf die Strasse läuft. Dieser Überlebensmechanismus setzt sich nur in Gang, wenn die aktuelle Situation es tatsächlich erfordert – danach kehrt wieder Ruhe ein.
Die Angst anderseits kann fast pausenlos da sein, als Anspannung, sorgenvolles Gedankenkreisen bis hin zu Angstkrankheiten, die nur eine stark gesteigerte Form der vermeintlich normalen Angst darstellen. Die Angstvorstellungen können dabei jede Vernunft und Realität dominieren.
Angst ist eine Art Verirrung des ursprünglich sinnvollen Überlebenstriebs oder der natürlichen Vorsicht. Durch deren Gleichsetzung mit der Angst geben wir der Angst eine Normalität, die ihr nicht angemessen ist. Wir glauben, Angst schütze uns. Doch um klug und vorsichtig zu handeln oder uns nicht unnötigen Risiken auszusetzen, benötigen wir nur Intelligenz und Vernunft, keine Angst. Im Gegenteil: Sie hindert uns ja oft sogar am intelligenten Handeln und erst recht an einer freien Lebensgestaltung. Oder fällt Ihnen irgendeine Situation aus Ihrem Leben ein, in der Sie Sorge und Angst als hilfreich empfanden und wo Vernunft nicht ausgereicht hätte? Am besten geschützt sind wir, wenn wir ganz präsent und achtsam sind statt in Gedanken verstrickt. Auch vor Auftritten oder Prüfungen ist bloss erhöhte Wachsamkeit und Konzentration unterstützend, nicht aber Angst mitsamt ihren unangenehmen Begleiterscheinungen.
Angst wird immer durch Gedanken ausgelöst. Wir stellen uns etwas vor, was geschehen könnte, jetzt aber gar nicht Tatsache ist. Das Gehirn hat nun einmal Vorstellungsvermögen, was ja auf sachlicher Ebene auch sinnvoll ist. Das Problem ist nur, dass wir uns schrankenlos auch die dramatischsten Situationen vorstellen können, alles Denkbare, ohne Realitätsbezug. Das ist auch der wichtigste Unterschied zur gesunden Vorsicht und zum Überlebensreflex, die sich immer auf gegenwärtige Tatsachen beziehen. Wir müssen ja nur mit dem umgehen, was im Moment wirklich da ist. Und das können wir auch.
Angstfrei leben
Wie können wir angstfrei sein? Man könnte jetzt sagen, wir müssten einfach Vertrauen haben … Doch wie? Bei mir jedenfalls bleibt dieser Rat leider immer eher theoretisch und zeigt nur kurzzeitig Wirkung. Am wichtigsten scheint mir die zweifelsfreie Einsicht, dass Angst sinnlos ist, und die Klarheit, was sie mit uns anrichtet. Da hilft Wachsamkeit, Bemerken, wenn die Angst «am Drücker» ist und uns gerade wieder regiert. Bewusstsein genügt – kämpfen gegen die Angst verstärkt sie, denn was wir ablehnen, lässt uns nicht los.
Wenn ausgerechnet ich die Angst als Irrtum bezeichne, erscheine ich vielleicht nicht besonders glaubwürdig. Doch ich erlaube mir, mich als Expertin in Sachen Angst zu bezeichnen, weil ich aus eigenem Leidensdruck dazu gezwungen bin, mich eingehend damit zu befassen und ganz genau hinzuschauen. Die Sinnlosigkeit der Angst ist mir bewusst, und ich lerne, dieses Wissen umzusetzen, auch wenn mich die Angst immer wieder fast zur Verzweiflung treibt.
Das grosse Verständnis, das mir viele Menschen zeigen, die meine Artikel in der Quartierzeitung gelesen haben, berührt mich sehr. Einige von ihnen erzählen mir auch von eigenen Ängsten, und es ergeben sich jeweils schöne, bereichernde Gespräche.