(2015; Quartierzeitung Sternmatt)
Birkenblätter im Wind
Vor einiger Zeit lernte ich eine junge Frau aus dem Quartier kennen, die mit Anfang zwanzig eine Hirnverletzung erlitten hat. Sie hatte damals gerade erfolgreich ihre Ausbildung abgeschlossen, war voller Zukunftspläne. Doch dann brauchte sie plötzlich ihre ganze Kraft für das blanke Überleben. Statt um Karriereplanung ging es nun darum, wieder gehen zu lernen und viele zuvor selbstverständliche Funktionen geduldig zurückzugewinnen. In so einer Lage könnte man verzweifeln. Doch diese Frau strahlt für mich etwas besonders Echtes aus. Sie ist einfach dankbar, am Leben zu sein. Sie hat viel Humor, lacht gerne, ist voller Dankbarkeit für die Hilfe ihrer Familie, und sie hat eine gewisse Gelassenheit. Sicher kennt sie dunkle Zeiten, in denen sie sich das Leben anders wünscht und bedauert, dass sie ihren angestrebten Beruf nicht ausüben kann und dass viele Dinge nicht mehr möglich sind. Aber ich glaube, sie lässt sich davon nicht erdrücken. Sie hat wohl durch das, was sie durchgestanden hat, eine grosse Kraft entwickelt. Ich bewundere sie dafür – viel mehr als für eine berufliche Karriere!
Wenn einem, beispielsweise durch Krankheit oder auch im Alter, die Möglichkeit genommen ist, Pläne zu verwirklichen, besteht die Chance zu sehen: Es geht im Leben gar nicht um verwirklichte Pläne und erreichte Ziele. Sie sind nicht das, was uns wirklich zufrieden macht. Es geht um eine Zufriedenheit im Moment, unabhängig von den Umständen, die sich ohnehin immer wieder ändern.
Solange wir nach etwas streben, tauchen auch belastende Gedanken auf, wie: «Ich hätte mehr aus meinem Leben machen sollen; ich sollte endlich …; andere machen mehr aus sich.» Es kommt Bedauern über Verpasstes, was nicht mehr nachzuholen ist. Doch wie können wir je wissen, ob das Nichtverwirklichte besser gewesen wäre?
Ich habe lange zutiefst bedauert, meine Fähigkeiten nicht ausleben zu können, weil die Angstkrankheit so viel Kraft kostet. Auch heute noch tappe ich ab und zu in die Falle und denke, ich würde lieber endlich wieder als Musikerin und Lektorin tätig sein, möchte wieder ein Buch schreiben können, malen, den Lebensunterhalt selbst verdienen. Würde ich an meinen ursprünglichen Plänen festhalten, wäre ich nur frustriert. Doch ich lerne, meine Handlungen nicht zu bewerten und einfach zu tun, was sich aus dem Moment heraus ergibt. Wenn ich darüber nachdenke, ob ich «mein Potenzial ausschöpfe», werde ich sowieso nie schlussfolgern: ja! So gesehen, gibt es immer viel mehr, als sich verwirklichen lässt. Es ist ja fast schon ein Stress, aus allen heute bestehenden Möglichkeiten auszuwählen!
So, wie es nicht das sogenannte Unglück ist, das einen zwangsläufig leiden lässt, ist es umgekehrt auch nicht der erfüllte Wunsch, der einen automatisch zufrieden macht. Das bestätigt sich durch jene Menschen, die trotz spannendem Beruf und liebevoller Familie eine diffuse Unzufriedenheit spüren, die nicht von den weitgehend idealen Lebensumständen stammt. Wie lange dauert denn jeweils die Zufriedenheit über etwas Erreichtes? Zudem entpuppt es sich im Nachhinein vielleicht auch als höchst ungünstig.
Nicht zu streben, bedeutet nicht, dumpf vor sich hin zu brüten oder nichts zu verändern. Es geht nur darum, sich zu fragen, was die Beweggründe für eine Aktivität sind.Sollen Schuldgefühle abgetragen werden? Soll es einem besser gehen dadurch? Erhofft man sich von seinen Handlungen Anerkennung, Liebe, Erfolg? Dann wird das Streben weitergehen, sobald etwas erreicht ist. Und dies wiederum führt dazu, dass man vor lauter Streben den Moment vergisst, in dem man vielleicht gerade am Salatrüsten ist. Möglicherweise drückt auch der ständige Blick aufs Handy aus, dass man erhofft, von dort irgendetwas zu bekommen. «Eines Tages werde ich es schaffen!, dann fängt das Leben an!»: Wenn man so denkt, wird die Gegenwart nie gut genug sein.
Der Senior im Altersheim, der gerade nichts anderes tut, als zu beobachten, wie sich die Birkenblätter im Wind bewegen, lebt tatsächlich sein Potenzial, da er ganz präsent ist. Anders als der CEO, der gerade hektisch ein Sandwich isst, zugleich mit dem Telefon am Ohr seine elektronische Agenda aktualisiert und daneben die Zeitung überfliegt. Sollte der Senior «etwas Gescheiteres tun»? Das muss überhaupt nicht sein. Doch wenn er es aus Freude tut – nur zu.